( 5 Minuten) Deutschland Sommer 2018: Seehofer wird 69, 69 Afghanen werden an seinem Geburtstag abgeschoben und Mesut Özil meldet sich nach 69 Tagen aus seiner Schweigeabstinenz zurück. Was haben alle diese Ereignisse miteinander zu tun?
Horst Seehofer erklärte sich erfreut über die besagte Abschiebung von 69 Afghanen an seinem 69. Geburtstag, Mesut Özil und Horst Seehofer liefern sich seit Monaten ein Kopf an Kopf Rennen, wer die Politik, Medien und Gesellschaft mehr in Aufruhr versetzt. Der mediale Dauerbeschuss seit der Veröffentlichung der Bilder Mesut Özil‘s mit Vierteldemokrat Erdogan und dem Beginn der Causa Özil wurde zeitweilig durch Seehofers Rücktritt vom Rücktritt vom Amt des Innenministers und der folgenden Regierungskrise überragt. Letzten Sonntag dann nach 69 Tagen selbstauferlegtem Schweigegelübde der Paukenschlag: Mesut Özil verkündet mit einem durchchoreographierten Showdown seinen wirklichen Rücktritt aus der Nationalmannschaft, in Deutschland setzt erneut kollektive Schnappatmung ein und die Causa Özil liegt wieder vor der Causa Seehofer.
Die öffentlich von allen Seiten eingeforderte Entschuldigung sollte dem tief sitzenden WM-Schrecken ein Ende bereiten. Mesut Özil aber verweigert Deutschland das Happy End durch seine drei per Twitter verlautbarten Statements demonstrativ. Jetzt ist sie da die vielbeschworene Entschuldigung, aber gefallen tut sie fast niemandem. Sie hatten sich das anders vorgestellt, die lupenreinen demokratischen Bio-Deutschen. Selbstkritischer, leiser, reumütiger, besonnener- nicht im Internet, nicht auf englisch, nicht selbstbewusst, nicht mit Kritik an allem was nicht bei drei auf dem Apfelbaum ist- nicht so! Die Aufregung ist abermals groß in den Medien, der Politik und Gesellschaft a la Heul doch, Mimimi, Jämmerlich, feige, hat er doch nicht selbst geschrieben, was für’n Stuss etc. pp. Die Bild-Zeitung verhält sich wie ein eingeschnapptes Blag, das nicht auf den Kindergeburtstag eingeladen worden ist.
Die Frage, die sich jetzt einem stellt, ist doch wirklich warum? Warum regt man sich darüber auf, das Mesut Özil nach der zuweilen rassistisch geführten Debatte, die seine Bilder mit Erdogan ausgelöst haben, keinen Bock mehr auf die Nationalelf hat? Weil viele denken, dass die Debatte nicht in Teilen rassistisch geführt worden ist? Wahrscheinlich.
Um eins klar zu stellen: Man muss nicht einem selbsternannten Diktator Respekt zollen, nur weil er der Präsident des Landes ist, aus dem die Eltern stammen. Ja, Respekt hat einen großen Stellenwert in der türkischen Kultur. Wenn man aber nicht einer Meinung mit der Politik des Landes ist, aus dem die Eltern stammen, so wie viele Menschen in Deutschland, kann man respektvoll fadenscheinige oder triftige Gründe anführen und einem Treffen aus dem Weg gehen. ( Meine Vorfahren hätten sich im Grab umgedreht und meine Eltern mir was gehustet.) Mesut Özil hat das nicht gemacht und ist dafür kritisiert worden. Die Art und Weise aber wie er in Deutschland und in der folgenden Debatte von Politik, Gesellschaft und Medien dafür kritisiert worden ist, macht seine Statements und deren Inhalt in Teilen nachvollziehbar bzw. spielen ihm in die Hände sich nun als das zu Unrecht gescholtene Lämmchen zu gerieren. Jetzt fühlt er sich an der Reihe auszuteilen und Kritik zu üben, an allen, die er dafür verantwortlich hält.
Eltern können Vorbilder sein, Politiker*innen können Vorbilder sein, Sportler*innen können Vorbilder sein. Jede*r Mensch kann frei entscheiden, wen er oder sie sich als Vorbild aussucht. Was ist mit Journalist*innen? Was ist mit der gesellschaftlichen und sozialen Funktion der Medien? Journalist*innen müssen keine Vorbilder sein, aber als vierte Gewalt im Staat haben die Medien eine weitreichende soziale Funktion in der Gesellschaft. Namentlich Meinungsbildungs-, Informations-, sowie Kritik- und Kontrollfunktion. Sollten sie sich nicht durch größtmögliche objektive Berichterstattung über Ereignisse, Themen und Ideen die Gesellschaft, Kultur, Politik betreffen, auszeichnen? Nicht eine Rolle spielen im friedlichen gesellschaftlichen Miteinander statt diese zu verspielen auf der Jagd nach Quote, Clickbaits und Auflagenzahlen? Kritik müssen auch Medienschaffende aushalten, in der Demokratie. Was Özil oft vorgeworfen wurde, dass er die Kritik nicht erträgt, scheint jetzt in der Debatte um die Statements auf viele Journalisten zu zutreffen. Mesut Özil‘s Kritik, das sie z.T. mitgehetzt haben und auch eine Schuld in der Debatte tragen, geht manchen gewaltig gegen den Strich und die von Özil geforderte Selbstkritik wird hier ebenfalls sträflich vermisst.
Wer als mediale Meinungsmacher*in die eigene Doppelmoral bzw. den latenten Rassismus nicht erkennt, tut weder sich noch der Gesellschaft in der wir leben, einen Gefallen. Der Rassismus als eine Denkweise, die die „Anderen“ von den „Eigenen“ unterscheidet, die spaltet zwischen „Uns“ und „Ihnen“. Die Deutschen und die Anderen: die Zugezogenen, die Gastarbeiter, die Flüchtlinge. Egal wie lange sie hier schon leben, egal was sie leisten, egal, ob sie den deutschen Pass besitzen oder nicht. Dieser Denkweise entsprechen viele Kommentare in der Debatte und diese zu negieren, heisst nicht, dass sie nicht vorherrscht in den Köpfen.
Die Debatte vor kurzem um die überproportionale Gewichtung von Themen wie Islam, Terror, Flüchtlinge etc. in deutschen Talkshows ist ein Beispiel, provokant abscheuliche Headlines wie „Oder soll man es lassen?“ in bezug auf die private Seenotrettung einer grossen deutschen Wochenzeitung, ein weiteres. Es gibt noch viele mehr. Wie heute Themen gesetzt werden und wiederholt werden, wird mit Framing erklärt. Medien können negatives Framing wiederholen und diese in der Gesellschaft verankern oder sie können versuchen, dem negativen Diskurs einen positiven entgegen zu setzen. Die Macht hätten sie, den Plan oder den Anspruch haben sie jedenfalls nicht.
Mesut Özil ist ein Erdogan Anhänger, das Recht hat er. In einer Demokratie müssen wir das aushalten, so wie wir AfD&Co. ebenfalls aushalten müssen. In der Demokratie kann ein Anhänger einer faschistischen ausländischen Regierung nun aber eben auch den Rassismus in Deutschland anprangern, wenn er sich davon betroffen fühlt. Das muss Deutschland mitsamt Politik, Gesellschaft und Medien aushalten, weil es ihn gibt den Rassismus in Deutschland. Es gibt viele Menschen, die davon betroffen sind und viele, die sich tagtäglich mit Rassismus und Ausgrenzung auseinandersetzen und sich dem entgegenstellen. Das Mesut Özil sich jetzt als Opfer von Rassismus in den Medien zelebrieren kann, ist der Treppenwitz der gesamten Debatte. Für Menschen, die durch ihre Arbeit einen wichtigen Beitrag gegen Rassismus leisten, bestimmt nicht einfach zu ertragen.
Wenn wir endlich anfangen den rassistischen und nationalistischen Narrativen die positiven Narrative einer funktionierenden und pluralistischen Einwanderergesellschaft entgegen zu setzen, dann haben Özil, Erdogan&Co. keine Chance den Zeigefinger auf Rassismus in Deutschland zu halten. Versuchen müssen wir es alle, weil sonst können wir uns in Deutschland noch auf viel härtere Zeiten im gesellschaftlichen Umgang von Deutschen und Einwander*innen gefasst machen. (Wenn wir jetzt auch noch den Nationalismus abschaffen könnten, weil Nationen bzw. Nationalstaaten obsolet werden, dann wäre mein Glück perfekt. No nations, no borders!)
Aushalten und kritisches Entgegenstellen gegen Rassismus, Nationalismus, Faschismus ohne den anderen aufgrund seiner kulturellen Herkunft herabzusetzen oder zu diffamieren bzw. sich selbst die Deutungshoheit einzuverleiben, das ist Bilderbuch-Demokratie und davon ist die halbe ach was die ganze Welt noch weit entfernt. Das nun folgende Sommerloch sollte zur Selbstreflektion auf allen Seiten genutzt werden: Kartoffeln, Kanaken, Möchtegern-Vielversteher als auch totale Nix-Versteher.